Beim zweiten Kolloquium im Jahre 1977, als das Stichwort
ordo im Zentrum stand, befand sich der Thesaurus linguae La-
tinae in einer günstigen Lage. Damals war der Artikel ordo
für
unser Wörterbuch praktisch abgeschlossen; Fräulein Keudel, die
ihn
bearbeitet hatte, kannte das Material von Grund auf; sie
konnte die Ergebnisse
zusammenfassen und Ihnen einen Abriss
des Artikels vorlegen. Seither sind wir zwar
mit unserer Arbeit
ziemlich planmässig vorangekommen, aber wir sind noch längst
nicht beim Stichwort res angelangt. Andererseits war
angesichts
der Häufigkeit dieses Wortes nicht daran zu denken, die Arbeit
des künftigen Redaktors dieses Artikels vorwegzunehmen und
das umfangreiche
Material, das unser Archiv dazu enthält, aus-
zuwerten. Ich musste also von
vornherein darauf verzichten,
Ihnen einen Vortrag über res
im antiken Latein, der sich auf die
Kenntnis dieses Materials stützt, zu halten.
Das Thema meiner
Ausführungen ist wesentlich bescheidener: Ich werde Ihnen
zuerst einige allgemeine Beobachtungen über res vortragen und
dann im zweiten Teil den Sprachgebrauch zweier Autoren etwas
eingehender,
allerdings immer noch summarisch genug, betrach-
ten, nämlich einerseits die
Komödien des Plautus, das wichtigste
Dokument des Altlateins, andererseits das
Lehrgedicht des Lu-
krez, eines der ersten Werke der römischen Literatur, das
philo-
sophische Themen behandelt.
Im Archiv des Thesaurus umfasst das Material des Wortes
res ungefähr 20 ’0 00 Zettel, die etwa 30 ’0 00 Belegstellen ent-
halten dürften. Wenn wir das Material andere Wörter ver-
gleichen, stellen
wir schnell fest, dass res offenbar das häufigste
Substantiv der lateinischen Sprache ist. (Natürlich gibt es Kon-
junktionen,
Präpositionen, Pronomina, auch einige Verben, die
noch häufiger sind). Diese
Feststellung gilt zunächst für die
Gesamtheit der Texte, die uns aus der Antike
überliefert sind,
aber sie wird bestätigt durch Stichproben bei einzelnen Autoren.
So ergibt sich beispielsweise für Seneca aus den Frequenzanga-
ben, welche
in der Konkordanz von Busa-Zampolli enthalten sind,
dass auch hier res das häufigste Substantiv ist, gefolgt von animus
und modus. Der zweite Platz von animus ist nicht unbedingt
charakteristisch für andere Texte und Autoren,
sondern dürfte
bedingt sein durch die Thematik von Senecas Werken. Wenn
wir
noch einmal die ganze erhaltene Literatur ins Auge fassen,
so ist es —· immer nach
dem Material, das im Thesaurus ge-
sammelt ist — vielmehr modus , das unter den Substantiven den
zweiten Platz einnimmt. Dies
allerdings nur dann, wenn wir
auch die Formen modo, quo
modo, quem ad modum mitzählen,
Formen also, die sehr häufig
sind, aber meistens nicht mehr die
Geltung eines Substantivs haben, sondern
Adverbien geworden,
erstarrt sind.
Diese Tendenz zur Erstarrung ist ein Phänomen, das wir
bei res ebenfalls beobachten können, allerdings nicht im gleichen
Ausmass: In
den Texten begegnet uns res sehr oft in festen
Wendungen,
in denen es sein Gewicht als Substantiv, seine eigen-
ständige Bedeutung verliert
und schliesslich in einer starren
Formel aufgeht. So wird die Wendung qua re zur Konjunktion
quare ; die Verbindungen ob eam rem, quam ob
rem entwickeln
sich zu adverbiellen Ausdrücken und Synonymen von propterea.
Dass der substantivische Charakter von res sich abschwächt
oder
auch ganz verschwindet, können wir deutlich auch dort beobach-
ten, wo
res an Stelle eines indefiniten Neutrums verwendet wird,
also z. B. omnes res für omnia, alia res für aliud, nulla
res für
nihil. So geben die Schulgrammatiken nicht ohne Grund als Pa-
radigma der Deklination von nihil die Reihe: nihil - nullius rei -
nulli rei - nihil - nulla re.
Trotz seiner enormen Häufigkeit im Lateinischen hat das
Substantiv
res in den romanischen Sprachen kaum weitergelebt,
sondern ist weitgehend durch causa ersetzt worden. Man kann
eine ganze Reihe von Gründen nennen, welche diese Entwick-
lung verursacht haben
dürften. Sie liegen zum Teil in der äusseren
Gestalt des Wortes: in seiner
einsilbigen Form, der seltenen De-
klination; zum ändern in seiner Bedeutung: sie
ist in vielen
Fällen sehr unbestimmt, lässt sich nicht genau festlegen, zeigt
also, wie schon angedeutet, eine Tendenz zur Verallgemeinerung
und
Abschwächung. Dazu kommt andererseits gerade wegen des
allgemeinen Charakters des
Wortes die Möglichkeit, die Bedeu-
tung anderer Substantive zu übernehmen, woraus
sich eine Ten-
denz zu semantischer Überlastung ergibt. Derartige Wörter sind
immer in Gefahr, durch eindeutigere Synonyme verdrängt und
ersetzt zu
werden. Wenn wir übrigens die spärlichen Fortsetzer
von res
in den romanischen Sprachen, vor allem im Französischen
näher betrachten, so sind
es bezeichnenderweise vor allem adver-
bielle Verwendungen, die weiterleben,
nämlich die Konjunktion
quare, die zu französisch car geworden
ist, und der Akkusativ
rem, als Bezeichnung eines unbestimmten Neutrums, aus dem
sich die Negation rien entwickelte.
Ein weiterer, charakteristischer Zug für das Leben und die
Entwicklung unseres
Wortes ist die Tatsache, dass res, im Gegen-
satz etwa zu
causa oder auch zu modus, nicht in eine
Wortfa-
milie eingegliedert und eingebunden ist. Im antiken Latein jeden-
falls gibt es kaum Wörter, die von res abgeleitet sind. Das De-
minutivum recula oder rescula ist
zwar alt, aber sehr selten; für
das Adjektiv realis und das
zugehörige Adverb realiter finden
sich in unserem Archiv
ganze vier Belegstellen, die aus dem 4.
und 6. Jahrhundert stammen; das Substantiv
realitas tritt erst
in mittelalterlichen Texten in Erscheinung. Möglicherweise gehört
zu res noch das Substantiv reus ‘der von
einem Prozess ( res)
Betroffene’; aber diese Beziehung ist
zu lose, als dass sie helfen
könnte, eine Wortfamilie zu konstituieren. Das heisst
also: res
ist innerhalb des lateinischen Wortschatzes weitgehend isoliert,
und diese
Tatsache hat sicher dazu beigetragen, dass das von
Haus aus eher unbestimmte Wort
sich in seiner Bedeutung weiter
verallgemeinerte und abschwächte, so dass es für
die verschieden-
sten Inhalte verwendet werden konnte.
Während es kaum Ableitungen und keine eigentlichen Kom-
posita mit
res gibt, existieren andererseits zahlreiche mehr oder
weniger feste Verbindungen mit Adjektiven. Das wichtigste und
häufigste Beispiel
dieses Typs ist natürlich res publica. Weit ver-
breitet
sind ferner etwa res divina in der Bedeutung Opfer, Kult’,
res familiaris, res militaris, res navalis, res rustica ; im Plural sind
uns besonders die Ausdrücke res adversae und res secundae ver-
traut. Ich kenne kein anderes lateinisches Substantiv, mit dem
so viele und so
wichtige, beliebte Verbindungen dieser Art ge-
bildet wurden. Auch das ist, wie
mir scheint, ein Ausdruck,
eine Folge der Unbestimmtheit und vielseitigen
Verwendbarkeit
des Substantivs, denn in all diesen Verbindungen liegt ja das
semantische Gewicht deutlich auf dem Adjektiv; anders aus-
gedrückt: die
semantische Schwäche des Wortes res fordert
immer wieder
eine genauere Bestimmung durch ein Adjektiv.
An diese allgemeinen Ausführungen über die Häufigkeit des
Wortes
und seine Stellung innerhalb des lateinischen Wortschat-
zes möchte ich noch eine
Bemerkung über seine Herkunft an-
schliessen. Die etymologischen Wörterbücher
bringen res in Ver-
bindung mit altindisch ráh und setzen als Grundbedeutung an
‘Gut, Eigentum,
Besitz’, also die Bedeutung, welche im klassi-
schen Latein vor allem in der
Verbindung res familiaris vorkommt.
Wenn wir nunmehr die Verwendung des Wortes in den
ältesten lateinischen Texten
von grösserem Umfang, in den Ko-
mödien des Plautus, prüfen, so können wir sofort
feststellen,
dass die Grundbedeutung ‘Gut, Eigentum, Besitz’ hier noch sehr
stark vertreten ist, sowohl im Plural wie auch im Singular, wo
res gelegentlich beinahe ein Synonym von pecunia ist, zum
Beispiel in den Wendungen rem solvere,
rem perdere.
Eine zweite, grosse Gruppe der plautinischen Verwendungen
wird im
Lexicon Plautinum von Lodge zusammengefasst unter
der Rubrik factum, actio, status, condicio, negotium ; ein sehr
weites Feld also, als dessen Zentrum
man etwa die Vorstellung
von der ‘Sache, an der man ein Interesse hat’ sehen
könnte.
Charakteristisch für diese Gruppe sind die beliebten Ausdrücke
rem gerere, rem agere, rem mandare, rem narrare. Hingewiesen
sei noch auf einen
Sonderfall in diesem Bereich, nämlich auf
Stellen, wo res
beinahe so viel wie ‘Wirklichkeit, Wahrheit’
bedeutet, was vor allem in Verbindung
mit ipse begegnet, z. B.
res ipsa testi est ( Aulularia 421) oder ipsa res dicet tibi ( Epidi-
cus 713).
Eine dritte Gruppe bilden bei Plautus diejenigen Verwen-
dungen von res, wo das Wort seine volle Bedeutung verliert und
mehr
oder weniger verblasst. Dazu gehört einmal jener bereits
früher erwähnte Gebrauch
für ein unbestimmtes Neutrum. So
finden wir sehr oft haec
res für hoc, ea res für id, quaeres für
quid usw. Aber auch die festen Verbindungen mit Adjektiven
gehören hierher; sie sind bei Plautus vertreten vor allem durch
res argentaria, res cibaria, res divina und res publica. Eine be-
sondere Variante dieses Typs bildet die Verwendung von res in
euphemistischen Ausdrücken. Recht oft begegnet uns etwa in den
Komödien des
Plautus die Wendung mala res als beschönigende,
verschleiernde Bezeichnung für die Prügel, mit welchen die
Sklaven bestraft werden
(z. B. Asinaria 43 cave sis malam rem;
weitere Belege Thesaurus vol. VIII 217,9ff.). Bei
verschiedenen
späteren Autoren finden wir als Euphemismus die Verbindung
res Venerea oder res Veneris. Dabei ist
bezeichnenderweise auch
die Bedeutung dieses ganzen Ausdruckes noch nicht
eindeutig
festgelegt. Es gibt Beispiele, wo res Venerea
alles umfassen kann,
was mit körperlicher Liebe zu tun hat (z. B. Nepos, Alcibiades
11,4 homines vinolentos rebusque Veneriis deditos); meistens
aber ist es ein gezielter
Euphemismus für coitus (z. B. Ovid, re-
media amoris 431 a Veneris
rebus surgente puella).
Natürlich handelt es sich bei den drei Gruppen, von denen
ich bei
Plautus gesprochen habe, noch um eine sehr grobe und
vorläufige Einteilung,
sozusagen um einen ersten Annäherungs-
versuch an das grosse Material. Aber diese
Skizze kann vielleicht
doch eine gewisse Vorstellung vom Gebrauch des Wortes res in
der Zeit, da die lateinische Literatur entstanden
ist, vermitteln.
Weil ferner der Stil des Plautus stark geprägt ist durch die da-
malige Umgangssprache, dürfen wir mit einiger Vorsicht dieses
Bild auch als
repräsentativ für die allgemeine Sprache der Zeit
betrachten.
Gehen wir nun einen Schritt weiter zu einem philosophi-
schen oder
doch von der Philosophie geprägten Autor, zu Lu-
krez, um zu prüfen, wie weit sich
sein Gebrauch des Wortes
von demjenigen der allgemeinen Sprache unterscheidet.
Vorweg
noch eine Bemerkung zur Frequenz von res: Auch bei
Lukrez ist
es das häufigste Substantiv; in den etwa 7400 Versen kommt es
rund 650 mal vor. Die relative Häufigkeit schwankt je nach dem
Stoff der einzelnen
Bücher; das Maximum finden wir im ersten
Buch mit 188 Belegen in 1117 Versen.
Wie bei einem so häufigen Wort nicht anders zu erwarten,
beobachten wir auch bei
Lukrez viele Verwendungen, die wir
aus der allgemeinen Sprache kennen. Aber bei
näherer Unter-
suchung fällt sofort auf, dass manche davon zahlenmässig stark
zurücktreten. So gibt es zum Beispiel nur ganz wenige Stellen,
wo die nach
Ausweis der Etymologie ursprüngliche Bedeutung
‘Gut, Besitz’ vorliegt (3,70. 4,
1123. 5,1113. 6,1281). Auch die
in anderen Texten so häufigen festen Verbindungen
mit Adjek-
tiven wie res publica, res familiaris fehlen bei
Lukrez fast ganz;
ich habe ein einziges Beispiel mit res
adversae beobachtet (3,56).
Hinzufügen könnte man allenfalls einige
Stellen mit der Verbin-
dung res
vera. Diese Wendung ist beispielsweise bei Cicero recht
häufig, aber sie steht bei ihm fast immer im Ablativ Singular
re vera ‘in Wirklichkeit, in Wahrheit’, oft als Gegensatz zu no-
mine, verbo usw., das heisst in einer Antithese, die dem griechi-
schen Paar λόγω - έργω entspricht 1 . Daraus können wir ablesen,
dass bei Cicero diese Verbindung auf dem Weg
zur Erstarrung,
zum unveränderlichen Adverb ist. Davon zeugt auch die kon-
stante Wortfolge: es heisst bei ihm stets re vera, nie vera re.
(Eine ähnliche Erstarrung können wir übrigens schon früher,
nämlich seit
Plautus, in der synonymen Verbindung re eapse
erkennen, die zu re apse verschmilzt).
Wenn wir nun untersuchen, wie Lukrez die gleiche Ver-
bindung
gebraucht, so zeigt sich uns ein viel reicheres Bild als
bei Cicero, obwohl er im
ganzen nur sechs Belege dafür bietet,
also längst nicht so viele wie Cicero. Wir
finden zweimal den
Ablativ Singular (2,48 in der üblichen Wortfolge re vera ; 2,659
hingegen die Umkehrung vera re ), aber daneben andere Kasus
und auch den Plural. So
steht 3,524 vera res der falsa ratio gegen-
über, 4,764 der Plural
verae res dem Singular falsum. Wenn wir
diese grosse
Freiheit im Sprachgebrauch des Lukrez mit dem viel
strenger geregelten Ciceros
vergleichen, werden wir bedenken,
dass Lukrez nicht nur Philosoph, sondern auch
Dichter ist. Wir
werden bei ihm in besonderem Masse damit rechnen müssen,
dass er Wendungen der allgemeinen Sprache absichtlich verändert
und umgestaltet.
Andererseits können wir auch beobachten, dass
er gewisse Verwendungen von res vermeidet, weil sie prosaischen
Charakter haben. So
fehlt bei ihm wie bei anderen Dichtern die
sonst sehr häufige Formel quam ob rem (nur ein einziges Mal
lässt er sie zu,
bezeichnenderweise in der sonst seltenen plurali-
sehen Form quas ob res
1,156), während er das auch von an-
deren Dichtern nicht
gemiedene qua re
oft verwendet.
Aehnlich wie bei Plautus ist bei Lukrez die Verwendung
von res
für ein unbestimmtes Neutrum häufig, besonders in
verneinter Form, also nulla res
für nihil.
So formuliert er den
in der epikureischen Lehre wichtige
Grundsatz nihil e nihilo
fieri
auch mit nulla res,
z.B. 1,150 nullam rem e nihilo gigni
divinitus umquam.
Dass res
in solchen Sätzen einem Neutrum
gleichkommt, findet seinen
grammatischen Ausdruck darin, dass
das feminine Substantiv res
gelegentlich durch ein neutrales Pro-
nomen aufgenommen
wird oder mit einem solchen korrespon-
diert, z.B. 1,450, wo his...rebus
aufgenommen wird durch
horum
oder 4,1039 namque alias aliud res
commovet
1.
Das alles also sind Gebrauchsweisen, die Lukrez mit der
allgemeinen Sprache teilt, auch wenn die meisten davon bei ihm
in der Häufigkeit
stark zurücktreten. Viel häufiger ist bei ihm
nun eben ein Gebrauch, welcher der
philosophischen Sprache
angehört. Es ist diejenige Verwendung, die uns
programmatisch
schon im Titel seines Werkes entgegentritt: de
rerum natura.
Zwar fehlt dieser Titel am Anfang der ältesten Handschriften,
aber im Werk
selbst nimmt der Dichter mehrfach darauf Bezug,
so wenn er im Prooemium von den
Versen spricht, quos ego de
rerum natura pangere
conor
(1,25). Dieser Titel ist zweifellos
in Anlehnung an Epikurs
περί φύσεως geprägt worden, aber der
Vergleich zeigt sofort, dass der Genitiv rerum
im griechischen
Titel keine Entsprechung hat. Wenn wir eine
einführen wollten,
müsste sie sicherlich lauten των όντων , das heisst, das
Substantiv
res
vertritt hier die Stelle des Partizips ens,
entis,
das im klassi-
schen Latein noch nicht existiert 2.
Auf diesen Gebrauch: res = τά όντα entfällt nun
die Haupt-
masse aller Belege bei Lukrez, jedenfalls weit mehr als die Hälfte.
Ich brauche hier nur an allgemein bekannte, sehr häufige Ver-
bindungen zu
erinnern wie primordia rerum (36 mal), das syno-
nyme semina rerum oder an die Wendung summa rerum als
Ausdruck für die ganze Welt. Res bezeichnet dabei in der
Regel
die Erscheinungen, die Dinge, aus denen die Welt besteht, in
der Form,
in welcher sie von unseren Sinnen wahrgenommen
werden. In diesem Sinn stellt
Lukrez öfters die res der ungeform-
ten materies gegenüber.
Allerdings dürfen wir von Lukrez keine terminologische
Konsequenz und keine
scharfe Abgrenzung dieses Gebrauchs von
anderen erwarten. Obwohl er mit res meistens alle Dinge bezeich-
nen
will, kommt es nicht selten vor, dass das Substantiv offen-
sichtlich eine
eingeschränkte Bedeutung hat. Das ist zunächst nicht
weiter auffällig, wenn eine
solche Beschränkung durch ein Attribut
explizit gemacht ist, also wenn etwa die
superae res den Dingen
auf der Erde (quaeque gerantur in
terris, l,127ff.) gegenüber-
gestellt werden. Aber manchmal
kann die Einschränkung schon
im Substantiv selbst liegen. So spricht Lukrez 1,1107
vom ‘Sturz
des Himmels und der Erde’: Inter ... rerum caelique
ruinas, meint
hier also offenbar mit res nur die Erde, die irdischen Dinge im
Gegensatz zum Himmel. Ein
zweites Beispiel für eine solche
eingeschränkte Verwendung: In der Darstellung der
Lehre des
Empedokles bezeichnet der Dichter gelegentlich die vier Elemente,
aus denen die Dinge bestehen, als res. So heisst es etwa in 1,714
quattuor ex
rebus omnia rentur ... procrescere, und im gleichen
Zusammenhang findet sich die
folgende Passage (1, 763ff.):
denique quattuor ex rebus si cuncta creantur,
atque in eas rursum res omnia
dissolvuntur,
qui magis illa queunt rerum primordia dici,
quam contra res
illorum retroque putari?
“Schliesslich: wenn aus vier Dingen alles geschaffen wird, und in
diese Dinge wiederum alles sich auf löst, wie können mit mehr
Recht jene die
Urelemente der Dinge geheissen werden als umge-
kehrt die Dinge als Elemente jener
betrachtet werden?”
In den ersten beiden Versen (763f.) verwendet Lukrez res
für die Elemente, während er die Dinge, τά όντα , die er sonst
so oft mit
dem Worte res benennt, hier durch die Neutra cuncta
und omnia bezeichnet. Aber in den folgenden beiden Versen
werden die Rollen vertauscht: Hier verwendet der Dichter res
in der üblichen Bedeutung, also für die Dinge allgemein, und
bezeichnet die
Elemente mit dem Pronomen illa. Ein solches
Nebeneinander
von terminologisch festgelegter und freier Ver-
wendung des Wortes, ein
Nebeneinander, wenn man so will, von
philosophisch geprägter und allgemeiner
Sprache lässt sich bei
Lukrez nicht selten in kurzem Abstand, ja manchmal, wie in
dem besprochenen Beispiel, innerhalb eines einzigen Satzes be-
obachten.
Wenn also in manchen Punkten sich ein deutlicher Unter-
schied
zwischen dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem philo-
sophisch beeinflussten
unseres Dichters zeigt, so sehen wir ande-
rerseits im einzelnen immer wieder, wie
die beiden Sprachele-
mente sich vermengen und verbinden. Man kann solche Inkon-
sequenzen natürlich aus dem persönlichen Stil des Autors erklä-
ren, und ich
würde einer solchen Auffassung gewiss nicht wider-
sprechen. Aber mir scheint, es
kommt darin noch einmal etwas
zum Ausdruck, was auch zum Charakter des Wortes res gehört:
Die vielfachen Uebergänge im Gebrauch von der einen zur anderen
Bedeutung sind sicher auch eine Folge der grossen semantischen
Spannweite des
Wortes, die es zu einem vielseitig verwendbaren
Instrument in der Hand des Autors
machen.
Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen. Sie konnten,
um es noch
einmal deutlich zu sagen, nicht mehr enthalten als
einen sehr vorläufigen
Annäherungsversuch an ein sehr grosses,
vielfach differenziertes Material und
sollten Ihnen zugleich einen
gewissen Eindruck davon vermitteln, mit welchen
Fragen der
allgemein interessierte, nicht speziell auf die philosophische Spra-
che ausgerichtete Lexikograph an ein solches Material herantreten
kann.
tem) poscere videbatur, re vera iudicia poscebat. leg. agr. 2, 32 potesta-
tem verbo praetoriam, re vera regiam. div. 2, 110 eum, quem re vera
regem habebamus, appellandum quoque esse regem.
Lukrezausgabe, Oxford 1947, vol. I, p. 94 f.
Caesar das Partizip ens in Analogie zu possum - potens gebildet haben,
aber die Form ist jedenfalls im Lateinischen noch lange nicht heimisch
geworden. Noch Augustin scheint sie nicht zu kennen, denn er sagt
einmal ( loc. hept. 3,32) non hoc est 'existens’, quod graecus dixit
ών, sed si dici posset ‘essens’. Selbst Boethius, der ens in seinen Ueber-
setzungen oft zur Wiedergabe des griechischen ών verwendet, gibt
deutlich zu erkennen, dass es der Sprache eigentlich fremd ist (vgl. in
Porph. comm. pr. 1,24 p. 74, 13 ff.) und er weicht deshalb auch
häufig auf andere Uebersetzungsmöglichkeiten wie existens oder qui
est aus.
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